Über muskeldysmorphe Symptome bei Frauen


Eine Mixed-Methods-Studie

Muskeldysmorphie ist eine psychische Störung, die durch eine intensive Beschäftigung und Unzufriedenheit mit der als insuffizient erlebten Muskulatur sowie funktionellen Beeinträchtigungen aufgrund zwanghafter muskelorientierter Bemühungen definiert ist. Dementsprechend erleben Betroffene ihren Körper als äußerst schmächtig, obwohl dieser objektiv häufig überdurchschnittlich muskulös sind, und verfolgen ein striktes Trainings- und Ernährungsregime, um der Unzufriedenheit zu begegnen. Seit 2013 ist die Muskeldysmorphie mit einem Zusatzkriterium der körperdysmorphen Störungen im Diagnosemanual für psychische Störungen DSM-5 aufgeführt.

Seit 1997 wird zunehmend zur Muskeldysmorphie geforscht, wobei vorrangig Männer in den Forschungsgegenstand einbezogen wurden. Wenige Forschungsarbeiten liefern jedoch Hinweise darauf, dass Muskeldysmorphie ebenfalls bei Frauen und möglicherweise sogar marginal seltener als bei Männern auftritt. Das Ziel der vorliegenden Studie war es daher, neue Erkenntnisse über muskulaturbezogene Unzufriedenheit und damit einhergehende muskeldysmorphe Symptome bei Frauen und dazugehörige Entstehungs-, Einfluss-, aufrechterhaltende Faktoren sowie resultierende Beeinträchtigungen zu erlangen.

Hierfür wurden, eingebettet in das qualitative methodische Vorgehen nach der Reflexiven Grounded Theory (RGT), narrative Interviews mit zehn Frauen geführt, welche häufig Muskeltraining betreiben und unzufrieden mit ihrer Muskulatur sind. Die Gesprächspartnerinnen wurden durch die Forschende im Untersuchungsfeld ausgewählt. Die Interviews wurden transkribiert, analysiert und mittels der Kodierprozesse im Sinne der RGT ausgewertet. Als Kernergebnis dieser Studie wurde ein gegenstandsspezifisches Modell aus den erhobenen Daten entwickelt. Darüber hinaus wurde das Muscle Dysmorphia Inventory, die Drive forMuscularityScale und die diagnostischen Kriterien nach dem Diagnosemanual DSM-5 bei den zehn Gesprächspartnerinnen erhoben. Durch die Erfassung störungsspezifischer Ergänzungsfragenkonnten weitere Informationen zur Symptomanzahl und -ausprägung gewonnen und die klinische Relevanz der qualitativen Erkenntnisse evaluiert werden.

Die vorliegende Modellskizze (siehe Abbildung 1) kann als ein erster Vorschlag zur Erklärung der grundlegenden Dynamik muskeldysmorpher Symptome bei Frauen verstanden werden. Das Modell gliedert sich in prädisponierende und auslösende Faktoren, die Entstehung und Aufrechterhaltung muskeldysmorpher Symptome sowie intervenierende Faktoren. Die prädisponierenden Faktoren und deren Subkategorien gliedern sich in familiäre und soziokulturelle Faktoren, welche Einfluss auf die individuellen Prädispositionen ausüben. Familiäre Prädispositionen sind beispielsweise mangelnde Selbstwertquellen, Übergewicht und eine große Bedeutung des Aussehens. Soziokulturelle Prädispositionen bilden schamhafte Körpererfahrungen und der Einfluss durch das Schönheitsideal, soziale Medien und das soziale Umfeld. Individuelle Prädispositionen umfassen beispielsweise essgestörtes Denken und Handeln, Körperunzufriedenheit und Leistungsstreben. Aufgrund der chronologischen Ordnung der biografischen Ereignisse werden traumatische Erfahrungen, die Ablösung vom Elternhaus und Bodybuilding-Aktivitäten als auslösende Faktoren eingeordnet, welche die Entstehung muskeldysmorpher Symptome und die kreisförmige Dynamik der Aufrechterhaltung dieser in Gang setzen. Die Gesprächspartnerinnen berichteten besonders häufig von körperlichem Missbrauch, Vergewaltigungen und versuchten Vergewaltigungen als traumatischen Erfahrungen.

Die folgende Abbildung zeigt einen Teil des Gesamtmodells, welcher die kreisförmige Dynamik der Entstehung und Aufrechterhaltung von muskeldysmorphen Symptomen beschreibt.

Abbildung 1: Entstehung und Aufrechterhaltung muskeldysmorpher Symptome

Im Zentrum des Kreislaufs steht die Beschäftigung mit dem Körper und der Muskulatur, die Unzufriedenheit damit und das Streben nach Muskelaufbau und -definition, welches durch ein striktes Ernährungs- und Trainingsverhalten zum Muskelaufbau oder-erhalt führt. Die ständige Wiederholung dieses Prozesses wird zum einen durch dysfunktionale Emotionen, Verhalten und Kognitionen und zum anderen durch umweltbezogene und intrapersonelle Verstärkung verursacht. Beispielhaft für eine dysfunktionale Kognition kann die Körperbildstörung genannt werden, durch welche die eigene Muskulatur nicht oder eingeschränkt wahrgenommen wird und infolgedessen weitere muskelorientierte Bemühungen erfolgen. Beispielhaft für die intrapersonelle Verstärkung kann eine funktionale Körper- und Nahrungsakzeptanz genannt werden, durch welche eine analysierende, funktionalisierende und teils objektifizierende Betrachtung von Körper und Nahrung zur psychischen Entlastung beiträgt. Aus dem beschriebenen Kreislauf der Aufrechterhaltung ergeben sich bestimmte, vorwiegend negative Konsequenzen, welche wiederum auf den Kreislauf einwirken und diesen potenziell stören. Diese intervenierenden Faktoren beinhalten zum Beispiel eine gedankliche und alltagsweltliche Einengung, negatives Feedback, körperliche Folgeerscheinungen oder Bedürfniskonflikte, beispielweise, wenn die intensiven Muskelaufbau-Aktivitäten die beruflichen Wünsche behindern. Dieser Modellaspekt ist als Stärke des qualitativen Teils der Studie zu betrachten, da Reflexionsprozesse und Ambivalenzen herausgearbeitet werden konnten.

Trotz der geringen Anzahl an Fällen und der Akquise der Fälle in nicht-klinischen Kontexten zeigten die untersuchten Frauen einige Kernaspekte der Muskeldysmorphie. Demnach ist davon auszugehen, dass Frauen Symptome einer Muskeldysmorphie erleben und bei der Erforschung des Störungsbildes dringend zu beachten sind.

Die Relevanz einiger Modellaspekte wurde durch die Ergebnisse der etablierten Messinstrumente bestätigt. Im Zuge dessen wurden die berechneten Mittelwerte anhand anderer bestehender Studien interpretiert. So konnten hohe Ausprägungen bei einigen Ergänzungsfragen die klinische Bedeutsamkeit der qualitativen Ergebnisse bestätigen. Die Ergebnisse sowie die Einschränkungen dieser Arbeit unterstreichen die Relevanz weiterer Forschungsbemühungen.

Quelle: Schleider, K. (2023). Über Muskeldysmorphe Symptome bei Frauen – eine Mixed-Methods-Untersuchung. Technische Universität Braunschweig. Unveröffentlichte Masterarbeit.